Kapitel No. 8




VIII


Carina ist nicht Jeanne.
Luise ist weiser. Alles könnte gut gehen. Und es geht auch gut. In den kommenden Wochen und Monaten, nach dem Tag, an dem Carina zum zweiten Mal bei Luise angerufen hat. Fünf Wochen, nach dem Tag, an dem Carina zum ersten Mal um Beratung bat. Wenige Wochen, nachdem Jeanne zu Luise Lebwohl sagen musste. Zwei Tage, vor jenem Tag, vor zweieinhalb Jahren. Diesem Tag, an dem Luise alles so satt gewesen ist. Luise beobachtet sehr genau. Sie analysiert ihre Gefühle. Sie versucht ihre Klientel vor den eigenen Projektionen zu schützen. Und doch beginnt, sich etwas auszubreiten, in ihr. Es rumort als dumpfes Sein. Es zeigt kein klares Gesicht. Und so erkennt sie nicht, was das ist, das da zunehmend rumort. Ihr Blick auf die Ratsuchenden ist gütig. Und doch möchte sie oft den Blick einfach abwenden können. Und nicht sehen. Und nicht hören. Und nicht fühlen. Das, was der Mensch ist. Sagt Luise. An diesem Tag, also Heute, zu Lars Dietrich.  Genau genommen, drei Monate, nach jenem Tag, an dem Carina zum zweiten Mal, mit süßer Schnute, bei ihr angerufen hat. Das, was der Mensch ist, das tut mir weh! Und ein Zittern schüttelt ihren Körper. Und sie weiß, sie meint auch Lars Dietrich. Und sie weiß, sie meint auch sich selbst. Wenn sie sich wirklich einlassen will. Auf die Welt. Wie sie ist. Und wie sie lieber nicht will. Sich einlassen. Auf die Welt, wie sie ist. In diesem Moment. Die Welt ist, wie sie ist! Sagt Lars Dietrich. Und dann stürzt er sich auf seine Frau. Wie ein Untier, stürzt er sich auf Luise. Und er knurrt mit den Zähnen und beißt seine Dame ein wenig in den Hals. In den weißen Hals. Wie ein Schwan. So ein Hals.  Und sie macht Spaß, diese Welt! Sagt Lars Dietrich. Mit gefletschten Zähnen. Sagt er das. Und Luise kichert.  Und Luise genießt. Luise genießt seine Macht. Als Mann. Über sie. Und sie genießt ihre Macht. Als Frau. Über ihn. Und nach spitzem Schrei, Gerangel und einer Million Küssen, ordnet sie die Kleider, streift sie glatt, ihr Kleid und sein Kleid und setzt erneut ein ernstes Gesicht auf. Im Ernst! Sagt Luise. Zu Lars Dietrich. Ich will sie beschützen. Zum Beispiel. Ich will Carina beschützen. Und ich  kann sie nicht beschützen. Zum Beispiel. Und ich will dich beschützen. Und ich kann dich nicht beschützen. Zum Beispiel. Und ich will manchmal nur noch mich beschützen. Und ich weiß nicht mehr wie. Ich weiß nicht mehr. Weil ich gar nichts mehr weiß. Ohne Beispiel. Ohne Vorbild. Auf dieser Welt. Und dann schüttelt wieder ein Weinen ihren Körper. Ein Weinen, wie damals fast, an diesem Tag, vor zweieinhalb Jahren. Und Heute ist jener Tag, vor zwei Jahren. Und die Geschichte hat noch nicht einmal richtig angefangen. Und Luise ist dennoch mittendrin. Und Luise will eine Insel sein. Eine Insel aus reinweißem Sand. So sauber. Und sie fühlt sich mittendrin. In Etwas. Das außerhalb ihrer Kontrolle ist. Luise hat Angst. Und die rumort in ihr. Und das erkennt sie nun. In diesem Moment. In diesem Augenblick. Aber was das ist, wovor sie Angst hat, das weiß sie noch immer nicht. Denn die Angst hat einfach kein Gesicht. In diesem Augenblick. Und Lars Dietrich bedeckt seine Frau. Bedeckt seine Frau mit sich selbst. Und auch er hat nun Angst. Luise weiß Alles! Denkt er. In jedem Moment. Und dass sie nun Nichts mehr weiß. Das macht ihm Angst. Dem Lars Dietrich.  Und an diesem Tag, also Heute, macht Luise blau. Sie schützt sich. Und lässt die Menschen und die Welt draußen stehen. Und Lars Dietrich bleibt bei seiner Frau. Bleibt bei Luise. Und geht nicht zu Lars. Heute, an diesem Tag, vor zwei Jahren, an dem Luise Angst bekommen hat. Und Lars Dietrich schreibt seinen Liedtext „Held will ich sein!“. Und Luise schreibt ihr Gedicht, mit dem Titel „Flügelschlag der Krähe“. Doch die Angst, die begleitet sie Heute in die Nacht hinein. In den Schlaf. Den nicht Ewigen. Den nicht Erholsamen. Den Traumlosen. Nur einmal, kurz, wird Luise wach. Es gibt keinen Halt. Hier. Heute Nacht. Denkt sie. Dabei liegt Lars Dietrich neben ihr. Die Männerbrust hebt sich. Und senkt sich. Hebt sich. Und senkt sich. In gleichmäßig ruhigem Takt. Die Uhr macht TickTack. TickTack. Es gibt keine Taktik. Dagegen anzukämpfen. Denkt Luise. Und schläft ein. Und schläft durch. Wie ein Stein. Und dann kommt ein neuer Tag.
Und der ist, was er ist.


Kommentare

Beliebte Posts